Sigrid Blomen-Radermacher
Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen stellt erstmals zwei Künstler gegenüber, deren Biografien kaum unterschiedlicher sind, deren Arbeiten aber von einem gemeinsamen Aspekt geprägt war: dem Streben nach der Loslösung vom erkennbaren Gegenstand, der Abstraktion. Es sind der Künstler Wassily Kandinsky und die Künstlerin Hilma af Klint.
Wassily Kandinsky? Kennen viele – begegnen sie ihm und seinen Bildern schließlich seit Jahrzehnten auf zahlreichen Postern, in Lehrbüchern, in Ausstellungen und den Sammlungen klassischer Moderne. Aber Hilma af Klint? Selten oder nie gehört? Gut möglich. Mit der Ausstellung arbeitet die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen mit daran, der Unbekanntheit von Hilma af Klint ein Ende zu machen.
1907 malte die akademisch ausgebildete schwedische Malerin Hilma af Klint die Reihe „Die 10 Grosten“. Die Bilder sind mit einer Größe von 315 x 235 Zentimetern wandfüllend Im Mittelpunkt der Nummer sieben mit dem Untertitel „Das Erwachsenenalter“ steht eine große gelbe, mittig zusammengeschnürte Form, die entfernt an eine Pflanzenform erinnert. In ihr tauchen Linien wie topografische Verweise auf, römische Ziffern, chiffrierte Zeichen. Umgeben ist die gelbe Form von weiteren runden, fliesenden organischen Elementen, die ein Universum zu bilden scheinen, in der alles miteinander verknüpft ist. Hat man die Möglichkeit, näher an das Bild heranzugehen, entdeckt man die Vorzeichnung und Notizen zu dieser durchkomponierten Arbeit, die auf dem Boden liegend entstand, während af Klint sich malend über sie bewegte.
120 Ölgemälde, Aquarelle, Gouachen und Zeichnungen zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in der umfassenden Sonderausstellung. Werke der beiden Künstler stehen im Dialog nebeneinander – eine Premiere, wie zu hören ist. Denn bislang trafen ihre Werke nur selten in Gruppenausstellungen aufeinander. Und im Mittelpunkt der Kunstgeschichte und der Kunstbetrachter stand immer Wassily Kandinsky, der russische Maler, der von 1866 bis 1944 lebte, der in München die Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ mitbegründete der am Bauhaus lehrte, der mit dem Text „Über das Geistige in der Kunst“ sein Programm beschrieb und der als Wegbereiter der abstrakten Malerei betrachtet wurde.
Die Malerin Hilma af Klint befand sich lebenslang und darüber hinaus in seinem Schatten. Was ein wenig auch an ihrem Vermächtnis lag – aber dazu später mehr. Die Schwedin, die 1862 geboren wurde und im gleichen Jahr wie Kandinsky starb, aus diesem Schatten zu holen, „Leerstellen der Kunstgeschichte aufzuzeigen und die Geschichte der Abstraktion aus einer neuen Perspektive zu betrachten“, ist Ziel der Ausstellung, wie die Direktorin des Museums, Susanne Gaensheimer, schreibt. Nach dem Besuch der Ausstellung wird klar: Hilma af Klint ging einen ähnlichen Weg wie Kandinsky – einen ähnlichen und doch individuellen Weg.
Hilma af Klints Vermächtnis, das einer Aufmerksamkeit, die ihr würdig gewesen wäre, im Wege stand, war ihre Verügung, dass ihre Werke – für die Zeitgenossen, wie sie empfand – unverständlich – erst 20 Jahre nach ihrem Tod wieder gezeigt werden durften. So lange verweilten sie zusammengerollt und in Kisten gepackt auf dem Dachboden ihres Neffen in Stockholm, während Kandinskys Werke durch die Welt reisten. Hilma af Klints Durchbruch geschah erst im Jahr 2018, als das Guggenheim Museum eine Retrospektive der Malerin organisierte. 600 000 Menschen sahen ihre Werke und sie begann aus dem Schatten aufzutauchen.
Bei allen Unterschieden wird in der Düsseldorfer Ausstellung klar: Sowohl Hilma af Klint als auch Wassily Kandinsky ging es um die geistige Ebene, ging es darum, hinter die vordergründigen Dinge zu blicken. Abstraktion war für sie keine Frage des Stils, sondern eine Frage der Wahrnehmung von Welt. Das passt in die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende, in der eine neue Atomtheorie und die Quantenphysik ihr Geburtsstunde feierten. Wenige Jahre zuvor hatte Wilhelm Conrad Röntgen die nach ihm benannten Strahlen entdeckt. Die Welt begann tatsächlich, „dahinter“ zu schauen. Af Klints und Kandinskys Traum war es, mit ihrer Malerei die Gesellschaft zu verändern, die Menschen mit der Freiheit ihrer Formen freizumachen. Die Gäste der Ausstellung erwartet ein ungewöhnlicher Seh-Genuss.
Gut zu wissen:
Die Ausstellung lauft bis zum 11. August in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Am Grabbeplatz. Sie ist dienstags bis sonntags und an Feiertagen von 11 bis 18 Uhr geöffnet. Tickets gibt es im Vorverkauf über die Homepage des Museums www.kunstsammlung.de sowie vor Ort.
Das Museum bietet einen kostenfreien Audioguide an, der über das eigene Smartphone zu nutzen ist. Die Schauspielerin Anna Schudt und der Schauspieler Moritz Fuhrmann haben die von Kuratorin und Autorin Julia Voll und Kurator Daniel Birnbaum verfassten Texte eingelesen. Das Museum empfiehlt die Mitnahme eigener Kopfhörer.
Zur Ausstellung erscheint der Katalog „Hilma af Klint und Wassily Kandinsky träumen von der Zukunft“, verfasst von Julia Voss und Daniel Birnbaum. Die Direktorin des Museums, Susanne Gaensheimer, schrieb das Vorwort.
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20
Grabbeplatz 5
40213 Düsseldorf
https://www.kunstsammlung.de
Anfahrt:
ÖPNV: U70 bis U79, U83 Haltestelle Heinrich-Heine-Allee
Auto: Parken i.d. Tiefgarage K20 oder Parkhaus Ratinger Tor