In der heutigen Zeit, in der medizinische Fortschritte in atemberaubendem Tempo voranschreiten, tendieren wir oft dazu, die Behandlung von körperlichen Problemen auf die Symptome zu reduzieren, die sie verursachen. Doch die wahre Ursache eines Problems bleibt oft verborgen, tief im komplexen Netzwerk des menschlichen Körpers.
Stellen Sie sich vor, Sie behandeln einen undichten Wasserhahn in ihrem Haus, in dem Sie lediglich das austretende Wasser mit einem Gefäß auffangen und gelegentlich leeren, ohne die undichte Stelle zu reparieren. Die Symptome werden weniger – zumindest vorübergehend – aber das eigentliche Problem bleibt bestehen und kann im schlimmsten Fall zu noch größeren Schäden führen. Ähnlich verhält es sich mit unserem Körper:
Symptome sind oft nur die sichtbaren Anzeichen eines tieferliegenden Ungleichgewichts.
Betrachten wir den menschlichen Körper als Netzwerk, ein raffiniertes System aus Organen, Geweben und Zellen, die in ständiger Kommunikation stehen: Jede Störung in einem Teil dieses Netzwerks kann Auswirkungen auf andere Bereiche haben.
Ein Beispiel ist die Verbindung zwischen Darmgesundheit und mentalem Wohlbefinden, die in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Wissenschaft gerückt ist: Ein Ungleichgewicht im Mikrobiom des Darms, kann nicht nur zu Verdauungsprobleme, sondern auch zu Fehlhaltungen, Depressionen und Angstzustände führen. Während dieser ganzheitliche Ansatz theoretisch immer einleuchtend klingt, entfaltet sich seine wahre Bedeutung erst in der Praxis, wenn wir konkrete Patientenbeispiele betrachten. Die nachfolgende Geschichte illustriert, wie das Verständnis des Körpers als Netzwerk nicht nur das Symptom, sondern auch die Behandlung revolutionieren kann.
In einer Welt, die von schnellen Lösungen und oberflächlichen Diagnosen geprägt ist, wird oft übersehen, dass viele Beschwerden tiefere, komplexere Ursachen haben, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Dies gilt besonders im Bereich der Physiotherapie und Osteopathie, wo eine präzise Analyse und Behandlung oft den Unterschied zwischen kurzfristiger Linderung und nachhaltiger Genesung ausmacht.
Ein eindrucksvoller Fall für die Komplexität des menschlichen Körpers und die essentielle Bedeutung einer anderen, ganzheitlichen Betrachtungsweise, der diese Problematik eindrucksvoll veranschaulicht, ist der einer jungen Patientin, die sich vor einigen Wochen mit „instabilen Knien“ bei mir vorstellte - ein Symptom, das bei einer oberflächlichen Untersuchung möglicherweise isoliert behandelt worden wäre. Doch wie so oft, führt eine sorgfältige Anamnese, samt Diagnostik, in eine ganz andere Richtung.
Die Patientin berichtete, dass sie aktuell keinerlei Beschwerden in den Knien hatte, jedoch seit Jahren unter Migräne litt. Erst kürzlich habe sie eine einseitige Augenmigräne durchgestanden, und erwähnte beiläufig, mehrere Autounfälle in der Vergangenheit gehabt zu haben, darunter einen, bei dem sie sich das Jochbein frakturierte. Dies waren für mich ein entscheidender Hinweis, meinen Fokus und anderem auf den Kopf und das Gesicht zu verlagern. Bei der körperlichen Untersuchung fiel sofort auf, dass das Becken sich in einer torsionierten Stellung befand, begleitet von einer Kompression zweier Schädelknochen – ein klarer Hinweis auf eine tiefliegende Dysfunktion. Schon zu Beginn war klar, dass die Beschwerden der Patientin nicht isoliert betrachtet werden konnte, sondern als Symptom einer tieferliegenden Problematik.
Die Tücke der Schiefstellungen
Rund 80 % der Menschen haben einen Beckenschiefstand. Viele bemerken diesen gar nicht oder lediglich durch das Gefühl, eine zu enge Hose zu tragen, doch die Auswirkungen dieser Dysfunktion können viel tiefgreifender sein. Das Becken bildet die Basis unseres Bewegungssystems, und eine Schieflage kann weitreichende Folgen für die Wirbelsäule und den gesamten Körper haben.
Unser Bewegungssystem kann schließlich nur gerade und spannungsfrei sein, wenn die Wirbelsäule auf einem waagerechten Becken steht.
Bei meiner Patientin führte dies sogar zu einem einseitigen Aufliegen des Beckens im Liegen, ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Korrektur notwendig war. Mit gezielten Muskeltests ließ sich die Richtung der Fehlstellung des Beckens bestimmen und entsprechend korrigieren. Doch eine isolierte Korrektur des Beckens reicht oft nicht aus. Der gesamte Körper muss in Balance gebracht werden, einschließlich des kraniomandibulären Systems (Kiefergelenk). Bei meiner Patientin kombinierte ich daher die Korrektur des Beckens mit der Behandlung der gefundenen Schädelknochenkompression zwischen Hinterhaupts- und Schläfenbein [Sphenobasiläre Synchondrose (SBS)].
Die Suche nach der wahren Ursache
Nach der ersten Behandlung fühlte sich die Patientin freier beim Gehen und das Becken lag in der Rückenlage auf der Behandlungsbank gleichauf. Beim nächsten Termin berichtete sie von Schwindel, Kopfschmerzen und einer leichten Übelkeit nach der ersten Sitzung. Der Schwindel und die Symptome nach der Behandlung sind nicht ungewöhnlich: sie deuten darauf hin, dass der Körper auf die Korrektur reagiert hat und sich neu orientierte. Bei der Überprüfung, ob die angewandten Korrekturen, stabil geblieben sind, bat ich die Patientin, sich wieder auf meine Behandlungsbank zu legen. Und tatsächlich gab sie an, dass das Becken wieder nur einseitig auflag: Es kam also zu einem Rezidiv und das eigentliche, verursachende Problem, wurde noch nicht behoben. Könnte es sein, dass die alte Fraktur des Jochbeins als Störfeld für den Körper fungierte und den Beckenschiefstand verursachte? Mit Hilfe einer Stimmgabel und gezielten Muskeltests konnte ich feststellen, dass das rechte Jochbein tatsächlich dysfunktional war und behandelt werden musste. Die Mobilisation des Jochbeins in die richtige Richtung – unterstützt durch die helfende Atmung der Patientin – führte schließlich zum Durchbruch. Nach der Behandlung lag das Becken gleichmäßig auf, und auch nach Bewegung durch den Raum blieb die Korrektur stabil.
Die Lehren aus dem Fall
Dieser Fall zeigt eindrucksvoll, dass es in der Therapie entscheidend ist, die wahre Ursache einer Dysfunktion zu identifizieren und nicht nur die Symptome zu behandeln. Hätte ich mich auf die oberflächlichen Symptome des Beckenschiefstands beschränkt, wäre die Patientin wahrscheinlich weiterhin mit Beschwerden konfrontiert gewesen. Erst die Berücksichtigung der alten Jochbeinfraktur als Störfeld, führte zur nachhaltigen Begradigung des Beckens.
Für Therapeuten, Patienten und auch Mediziner gilt daher: Nur wenn wir die wahre Ursache hinter einem Symptom finden, können wir eine dauerhafte Lösung erzielen. Dies erfordert nicht nur Behandlungstechniken, sondern auch die Fähigkeit, zuzuhören, Muster zu erkennen und manchmal auch Umwege zu gehen, um die Wurzel des Problems zu finden. Letztlich ist es genau dieser ganzheitliche Ansatz, der den Unterschied zwischen vorübergehender Linderung und dauerhafter Rekonvaleszenz ausmacht.
Sebastian Jurochnik
Physiotherapeut | Personal Trainer
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