Karl Boland (Geschichtswerkstatt Mönchengladbach)
Die Lungentuberkulose, allgemein als „Schwindsucht“ bezeichnet, entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer allgemein gefürchteten Volksseuche, die stark ansteckend war und vor allem bei Menschen auftrat, die körperlich geschwächt waren und in bestimmten Berufen arbeiteten. Die körperliche Schwäche rührte u.a. von unzulänglicher Ernährung, von beengten und unhygienischen Wohnverhältnissen und von Arbeitsplätzen in schlecht belüfteten und staubigen Räumen. Deswegen waren die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Textilindustrie des Niederrheins von der Tuberkulose stark betroffen.
Allgemein galt die Diagnose „Schwindsucht“ als Todesurteil für einen sog. minderbemittelten Menschen. Insgesamt war die Tuberkulose bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein für ca. 10% aller Todesfälle verantwortlich. Und in der Altersgruppe der 15- bis 30-jährigen verstarben im Jahr 1890 in Preußen 44% aller Gestorbenen an Tuberkulose. Das war auch eine Ursache für Verarmung, weil sich der Krankheitsverlauf der Patientinnen und Patienten lange hinzog und die Krankenkasse aber nur für 13 Wochen Unterstützung zahlte. Hygiene war die wichtigste Tugend bei der Tuberkulosebekämpfung.
Wohltätige Vereine und die Kommunen kümmerten sich als erste um die Verbesserung der Hygiene in den betroffenen Haushalten, was gleichzeitig auch einer Disziplinierung der sozialen Unterschicht gleichkam: Isolierung des Kranken in eine eigene Kammer, Anleitung zu erhöhter Reinlichkeit, Desinfektion der Wäsche und Hilfen zur Verbesserung der Ernährung. In Mönchengladbach gab es seit 1896 einen „Wohnungsverein“, der sich für die Verbesserung der Wohnverhältnisse von Lungenkranken kümmerte. Schlechte und menschenüberfüllte Wohnungen galten als wahre Brutstätten der Tuberkulose. Der Textilunternehmer Franz Brandts und andere lokale Industrielle wirkten mit, denn sie hatten ein Interesse daran, trotz harter Arbeitsbedingungen und niedriger Löhne in der Textilindustrie, die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter erträglicher zu gestalten. Ein „Verein für Kranke und Genesende“ organisierte einen fahrbaren Mittagstisch, der aus einem Krankenhaus Entlassene mit gesunder Kost belieferte. Dieses Engagement hatte in Gladbach zur Folge, dass trotz Bevölkerungszunahme in der Zeit von 1888 bis 1903 die Tuberkulose um 50% abgenommen hatte.
Krankenversicherte Arbeitnehmende konnten ab 1900 eine Heilstättenbehandlung in Anspruch nehmen, sofern sie in eine sogenannte Volksheilstätte aufgenommen wurden. Aufgenommen wurden sowieso nur Patienten im Anfangsstadium der Tuberkulose, weil sonst Heilerfolge nicht zu erwarten waren. Die TB-Sterblichkeit in Preußen war seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bereits von 32 auf 19 Fälle je 10.000 Einwohner im Jahr 1903 gefallen. In Mönchengladbach lag die TB-Sterblichkeit über dem Durchschnitt in der Rheinprovinz. Für den Gedanken einer Volksheilstätte setzte sich in der Stadt der im Maria-Hilf-Krankenhaus tätige Sanitätsrat Dr. Blum ein, der eine an Tuberkulose erkrankte Patientin dahin beriet, nach ihrem Tode den größten Teil ihres großen Erbes der Stadt für die Errichtung einer Lungenheilstätte für Frauen zu überlassen. Die Patientin war Louise Gueury, wohlhabende Erbin in Mönchengladbach, die im Jahre 1900 starb.
Zusammen mit dem Oberbürgermeister Hermann Piecq entstand nach dem Erbfall dieses Millionenvermögens nun der Plan, im Hardter Wald eine Heilstätte zu errichten. Die Heilstätte konnte am 4. August 1904 unter großem Bahnhof mit Prominenz aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung sowie einem persönlichen Telegramm der Kaiserin eingeweiht werden. Fortan stand die Heilstätte mit 115 Betten für tuberkulosebetroffene Frauen offen, die aus dem ganzen Regierungsbezirk Düsseldorf hierhin eingewiesen wurden. Weitere Behandlungsmöglichkeiten für TB-Kranke entstanden im Jahr 1908 in der St. Franziskus-Heilstätte in Windberg für Frauen und Männer sowie ab 1910 für betroffene Jungen in der Provinzial-Fürsorgeerziehungsanstalt in Rheindahlen (heute Nordpark). Im Hardter Wald entstanden infolge der Heilstätten-Eröffnung im Jahr 1904 dann weitere Einrichtungen vor allem für Kinder, so dass die Stadt Mönchengladbach in der Zeit kurz vor dem I. Weltkrieg im ganzen Deutschen Reich als vorbildlich galt.
Geschichtswerkstatt Mönchengladbach, vertreten durch Karl Borland und Hans Schürigs
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