Jessica Sindermann
Stellen Sie sich einmal vor, Sie werden gemeinsam mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin bei vollem Bewusstsein eingemauert. Begraben unter einem riesigen Bauwerk. Vielleicht bleiben Ihnen noch ein paar gemeinsame Momente, vielleicht aber auch nicht. Wie würden Sie sich in den letzten Stunden Ihres gemeinsamen Lebens verhalten? Würden Sie es schaffen, als Liebende zu sterben und in einer ausweglosen Situation wie diesen den Verstand zu behalten? Oder würden Sie die Nerven verlieren und aufeinander losgehen? Würde Liebe zu Hass werden?
– Lediglich ein Gedankenexperiment, welches das Szenario der neuen Oper „Aida – der fünfte Akt“, treffend beschreibt. Am 3. September feiert die Uraufführung ihre Premiere im Bunker Güdderath und thematisiert, was mit den Protagonisten Radamès und Aida geschieht, nachdem sie am Ende von Verdis berühmter Oper unter dem Tempel lebendig begraben wurden.
Die Musik dazu stammt von dem bekannten deutschen Komponisten Stefan Heucke, der auch am Theater Krefeld und Mönchengladbach kein Unbekannter ist. Bereits 2004 erhielt er einen Kompositionsauftrag für die Oper „Das Frauenorchester von Auschwitz“, deren Uraufführung 2006 in Mönchengladbach besonderes Aufsehen erregte. Gemeinsam mit dem Librettisten Ralph Köhnen hat er jetzt die 70-minütige Kammeroper in sieben Szenen für Mezzosopran, Bariton und Kammerorchester über diesen spannenden Stoff geschrieben.
Ich habe den erfolgreichen Komponisten zum Interview getroffen und mit ihm über seinen Beruf, die „perfekte“ Komposition und natürlich auch die neue Oper „Aida – der fünfte Akt“ gesprochen, die ein fester Bestandteil der neuen Spielzeit 2023/24 am Theater Krefeld und Mönchengladbach ist!
HINDENBURGER: Sie sind leidenschaftlicher Komponist. Wie kam es dazu, gab es da einen bestimmten Schlüsselmoment? Haben Sie sich schon als Kind für die Musik interessiert?
Stefan Heucke: Ich habe mich eigentlich schon als Kind für die Musik interessiert. Im Alter von sechs Jahren, als ich Blockflöte lernte (wie eigentlich alle Kinder meiner Generation), habe ich die Noten, die ich spielen konnte, selbst aufgeschrieben. Ich erinnere mich auch noch genau daran, dass der Rektor des Gymnasiums meinen Vater bei der Anmeldung fragte, „was das Kind denn mal werden wolle, wenn es groß ist“ und ich habe wie aus der Pistole geschossen geantwortet: „Ich werde Komponist!“ (lacht) Meine ganze Jugend über habe ich dann eigentlich komponierend verbracht und später auch den Studiengang „Klavier- und Tonsatz“ in Dortmund abgeschlossen. Nicht lediglich mit der Intention, später einmal als Lehrer an einer Musikschule oder Musikhochschule zu unterrichten, sondern vielmehr um das musikalische Handwerkszeug von der Pike auf zu erlernen.
HINDENBURGER: Was ist in Ihrem Beruf besonders wichtig?
Stefan Heucke: Für mich ist das Wichtigste, genug Zeit zu haben, ungestört zu sein und ohne Druck arbeiten zu können. Und auch möglichst ohne Fremdbestimmung. Denn je weniger mir reingeredet wird in das, was ich mache, umso besser wird schlussendlich das Ergebnis.
HINDENBURGER: Was macht für Sie den besonderen Reiz und die Faszination am Komponieren aus?
Stefan Heucke: Es ist die künstlerische Art und Weise, wie ich mich perfekt ausdrücken kann. Für andere ist es das Malen, Schreiben oder Bildhauen, für mich ist es eben das Komponieren. Ich gerate jeden Morgen, wenn ich beginne, bereits nach wenigen Minuten in einen „kreativen Fluss“ und die Zeit vergeht wie im Flug!
HINDENBURGER: Wie entsteht die „perfekte“ Komposition?
Stefan Heucke: Das kommt ganz auf die Art von Musik an. Wenn es jetzt wie bei „Aida“ eine Oper wird, dann sollte zuerst das fertige Textbuch vorliegen. Mit dem beschäftige ich mich dann und zu dem erfinde ich die passende Musik. Handelt es sich um textlose Musik, wie bei Sinfonien, Streichquartetten oder Kammermusik, fange ich beim ersten Satz an und arbeite dann linear. Ich schreibe sofort in Partitur und mache das inzwischen auch ausschließlich am Computer, weil es einfach zeitsparender ist. Der Computer ist sozusagen meine „Schreibmaschine“.
HINDENBURGER: Wie entstehen die Ideen?
Stefan Heucke: Man muss bei mir zwei Dinge unterscheiden – zum einen gibt es die Ideen, die Auslöser sind für die Stücke, die ich schreibe. Die kommen zu ganz unterschiedlichen Zeiten. Das kann in den unterschiedlichsten Situationen sein. Beispielsweise beim Spazierengehen, unter der Dusche, beim Einkaufen oder auch während des Einschlafens. Wenn das der Fall ist, denke ich diese Idee dann einige Male durch, damit ich sie nicht wieder vergesse. Das eigentliche Komponieren ist dann wirklich Handwerksarbeit. Zehn Sekunden Musik erfordern ein bis eineinhalb Stunden schreiben, bis dann die komplette Partitur dasteht. Die handwerkliche Umsetzung ist einfach viel komplizierter als beim Texte schreiben oder malen, glaube ich.
HINDENBURGER: Erzählen Sie gerne etwas über die Uraufführung „Aida – der fünfte Akt“.
Stefan Heucke: Das tollste an „Aida“ war eigentlich, dass der Auftrag während des zweiten Lockdowns im Winter 2020/21 kam. Mitten in einer Zeit, in der es für uns freie Künstler ja eigentlich keine Aufträge gab und ich versucht habe, mich selbst zu beschäftigen. Ich hatte bis dato an Kompositionen gearbeitet, die ich schon immer mal schreiben wollte, für die ich vorher aber keine Zeit gefunden hatte. Bis der Anruf von Herrn Grosse kam. „Aida – der fünfte Akt“ ist eigentlich ein Projekt, das ich schon länger mit mir herumtrage. Die „Aida“ von Verdi endet ja damit, dass beide Protagonisten lebendig eingemauert werden und Aida in Radamès Armen stirbt. Aber warum sollte eine so junge Frau plötzlich von jetzt auf gleich einfach sterben? Ich fand den Gedanken spannend, sich zu vergegenwärtigen, was mit den beiden tatsächlich passiert und wie sie die letzte Zeit, die sie noch gemeinsam haben, gestalten. Und über diese spannende Fortsetzung ist dann in Zusammenarbeit mit meinem guten Freund und Librettisten Ralph Köhnen die 70-minütige Kammeroper in sieben Szenen entstanden.
HINDENBURGER: Was zeichnet diese Oper aus?
Stefan Heucke: Eigentlich gelten für fast jede Oper die gleichen Regeln. Erstens – sollten so wenig Wortredundanzen wie möglich verwendet werden und zweitens – Vorgänge nicht unbedingt nur erzählt, sondern bildlich sichtbar gemacht werden. Das war bei dieser Oper nicht so einfach, denn es befinden sich ja durchgängig nur zwei Menschen in einem einzigen Raum. Das ist eigentlich eher untypisch für eine klassische Oper.
HINDENBURGER: Welche Zielgruppe spricht die Oper an?
Stefan Heucke: Ich würde sagen, die Oper spricht grundsätzlich jeden an, der gerne Oper hört! Es handelt sich um eine moderne Musik. Vielleicht ist derjenige im Vorteil, der die „Aida“ von Verdi schon mal gesehen hat, da die Musik teilweise Rückbezüge herstellt. Das ist aber natürlich kein Muss!
HINDENBURGER: Warum denn der Bunker Güdderath als Ort für die Uraufführung?
Stefan Heucke: Der Bunker ist ja eine alternative Spielstätte des Theaters Krefeld und Mönchengladbach und natürlich gibt es kaum einen passenderen Ort, der das Innere eines Grabes so widerspiegeln könnte. Das Besondere ist, dass es dort keinen Orchestergraben gibt, sondern das Orchester sich auf einer Art kleinen Empore oberhalb der Bühne befindet. Das ist von der Präsentation und Aufmachung her mal etwas ganz anderes.
HINDENBURGER: Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz: Theater bedeutet für mich…
Stefan Heucke: …das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen für andere erlebbar zu machen.
HINDENBURGER: Lieber Herr Heucke, herzlichen Dank für die spannenden Einblicke in Ihr Leben als Komponist und auch in ihre künstlerische Arbeit auf dem Weg zu „Aida – der fünfte Akt“. Wir freuen uns auf die Fortsetzung dieser tragischen Liebesgeschichte!