Jessica Sindermann
Eins ist klar – Dirigierende müssen wissen, wo es langgeht, denn sie tragen die Verantwortung für ein großes Orchester, teilweise bestehend aus über 100 Musizierenden. Was das bedeutet, weiß der gebürtige Este Mihkel Kütson sehr genau. Bereits seit der Spielzeit 2012/ 2013 ist er Generalmusikdirektor am Theater Krefeld und Mönchengladbach und leitet das Orchester der Niederrheinischen Sinfoniker erfolgreich. Und vor allem voller Leidenschaft. Das spiegelt sich nicht nur in seinen Erfolgen wider, sondern wie ich im Gespräch feststelle, auch in der Art, wie er über die Musik und seinen Beruf spricht. – Aber lesen Sie selbst!
HINDENBURGER: Wie sind Sie zur Musik und zum Dirigieren gekommen? Gab es einen bestimmten Moment oder eine bestimmte Erfahrung, die Sie dazu inspiriert hat?
Mihkel Kütson: Woran ich mich noch sehr gut erinnern kann ist, dass wir damals am Ende der Kindergartenzeit gefragt wurden, was wir denn mal werden möchten wenn wir groß sind. Ich war sechs Jahre alt und hatte kurz davor einen Film über Johann Strauss gesehen, der mich scheinbar so inspiriert hatte, dass ich unmittelbar antwortete „Ich werde Komponist und möchte die Töne der Natur ebenso wie Strauss niederschreiben.“ Diese Erinnerung ist mir deswegen so genau im Gedächtnis geblieben, weil es dieses Abschlussheft noch gibt, indem ich als „der zukünftige Komponist“ betitelt wurde. (lacht) Auch damals konnte ich mich schon für den Klavierunterricht begeistern und ging daher bis zur zwölften Klasse auf eine Schule, die normalen Unterricht mit professionellem Musikunterricht kombinierte. Die Intention dahinter war natürlich, dass ein Teil der Schülerschaft auch Berufsmusiker werden. Dort habe ich dann das Komponieren gelernt und so war es naheliegend, dass ich nach dem Abitur auf das angrenzende Musikkonservatorium wechseln würde. Doch das Komponieren alleine machte mich eigentlich nie glücklich. Ich sang zusätzlich im Chor und sammelte dort bereits erste Erfahrungen als Chordirigent, was ich wiederum sehr spannend fand! Also studierte ich zunächst in meiner Heimatstadt Tallin und später in Hamburg an der Musikhochschule Orchesterleitung, wo ich das erste Mal auch mit der Oper in Berührung kam. Dadurch hat es sich ergeben, dass ich heute nicht nur als reiner Konzertdirigent tätig bin, sondern in beiden Bereichen.
HINDENBURGER: Welche Fähigkeiten und Eigenschaften sind Ihrer Meinung nach wichtig, um ein erfolgreicher Dirigent zu sein?
Mihkel Kütson: Ich denke, man selbst sollte definitiv eine große Portion an Musikalität mitbringen und mit vielen Instrumenten vertraut sein, damit man spieltechnische Schwierigkeiten einschätzen kann und weiß, wie im Notfall eingegriffen werden kann. Außerdem trägt der Dirigent natürlich eine große Verantwortung und sollte daher klare Zeichen geben können, auf die sich rund 150 Musikschaffende auch verlassen können. Und ein Händchen für Psychologie; also eine gute Menschenkenntnis ist essenziell, um Verständnis für jedes Orchestermitglied aufbringen zu können.
HINDENBURGER: Wie bereiten Sie sich auf eine Aufführung vor?
Mihkel Kütson: Man sagt immer, der Dirigent sei der Anwalt des Komponisten. Das bedeutet, dass der Komponist zwar ein Werk hinterlässt und versucht, alles möglichst genau zu notieren, die musikalische Notation jedoch insofern nicht vollkommen perfekt ist, als dass man als Dirigent die Seele der Musik selbst heraus spüren muss. Die Partitur muss erst kennengelernt werden. Mit Fragen wie „Was hat der Komponist damit gemeint? Was war für ihn vielleicht wichtig? Wie hat er das Stück komponiert? Welchen Charakter soll das Stück haben?“ beschäftige ich mich demnach lange vorher. Anschließend ist es meine Aufgabe, die Proben so zu organisieren, dass die Rhythmen harmonieren und es dann am Ende auf der Bühne ein mit glaubhaftem Inhalt gefülltes Werk abgibt.
HINDENBURGER: Wie gestalten Sie Ihre Interpretation eines Musikstücks? Gibt es bestimmte Aspekte, auf die Sie besonders achten oder die Sie betonen möchten?
Mihkel Kütson: Die Interpretation fängt ab dem Zeitpunkt an, wo ich versuche herauszufinden, was „zwischen den Zeilen“ oder in diesem Falle „Noten“ geschrieben steht. Wie wird eine Melodie gestaltet? Welchen Charakter hat das Werk? Das Orchester besitzt die Möglichkeit, die Klangfarben unterschiedlichster Instrumente zum Leuchten zu bringen. Und da fängt dann die eigene Interpretation an. Man kann ein Stück beispielsweise schnell oder langsam spielen, eher den dunklen Orchesterklang hervorheben oder die Leichtigkeit. Natürlich muss man da abwägen, was durch den Komponisten vorgegeben ist, aber trotzdem gibt es gewisse Interpretationsspielräume.
HINDENBURGER: Wie gehen Sie mit Herausforderungen während einer Aufführung um, zum Beispiel wenn etwas schiefläuft oder ein Musiker einen Fehler macht?
Mihkel Kütson: Das ist ein spannendes Thema, besonders in der heutigen Zeit. Es gibt Erzählungen von früheren Dirigenten, die aus Wut Taktstöcke zerbrachen, Musikschaffende anschrien und rausschmissen oder Türen knallten. Das war eine ganz andere Atmosphäre, die da herrschte. Heutzutage ist es natürlich anders! Es geht darum, dass man mit den Kolleginnen und Kollegen wertschätzend umgeht und sie auf Augenhöhe betrachtet. Wir sind alle Menschen und machen Fehler, aber wir tun auch alle gleichzeitig etwas Gutes. Es geht darum, gemeinschaftlich ein gutes Ergebnis zu erzielen. Das ist unser aller Ziel und da ist meine Vorbildrolle sehr wichtig.
HINDENBURGER: Erzählen Sie gerne etwas über das 2. Sinfoniekonzert im Hugo Junkers Hangar.
Mihkel Kütson: Das kommende Sinfoniekonzert ist in diesem Jahr schon sehr außergewöhnlich. Das Programm ist darauf ausgelegt, das 650. Jubiläum der Stadt Krefeld mit einem musikgeschichtlich wichtigen Werk zu feiern – mit Gustav Mahlers dritter Sinfonie. Im Prinzip als Geschenk des Orchesters an die Stadt Krefeld. Und gleichzeitig zelebrieren wir durch den Flugzeug-Hangar als Veranstaltungsort auch die Zusammenführung von Mönchengladbach und Rheydt vor genau 50 Jahren. Das Werk ist 1902 in Krefeld uraufgeführt wurden, das heißt Krefeld war an diesem Tag Mittelpunkt der Musikwelt und hatte Musikprominenz aus der ganzen Welt zu Gast. Das 100-minütige Stück hat mit 150 Musikerschaffenden nicht nur eine sehr großzügige Orchesterbesetzung, sondern beinhaltet zudem noch einen Kinder- und Damenchor und eine Solistin. Somit geht das Werk über die Grenzen einer normalen Sinfonie hinaus.
Gustav Mahler war nicht bloß ein Komponist, sondern gleichzeitig auch einer der wichtigsten Dirigenten der damaligen Zeit. In den Wintermonaten dirigierte er, in den Sommermonaten zog er sich zurück um zu komponieren. Und dabei ist auch dieses Werk entstanden, in dem er versucht, mit der Musik die Welt zu beschreiben. Seine Naturverbundenheit ist einer der wichtigsten Kerngedanken der Sinfonie. So werden viele Naturlaute durch die Instrumente transformiert. Ein Posthorn, Vogelgezwitscher, eine Nachtigall, Eselgeschrei…
HINDENBURGER: Welche Bedeutung hat Musik für Sie persönlich?
Mihkel Kütson: Ich würde schon sagen, dass Musik mein Leben ist! Das Schöne ist, dass ich durch meinen Beruf die Möglichkeit habe, alles zu sein. In der Oper kann ich jede Rolle einnehmen. Ich bin in den Phrasen jeder Figur drin und es ist für mich ein Privileg, dieses Miteinander zu gestalten. Künstlerisch alles auszuleben ist für mich sehr erfüllend.
HINDENBURGER: Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz: Theater bedeutet für mich….
Mihkel Kütson: … die ganze Welt.
HINDENBURGER: Lieber Herr Kütson, vielen Dank für die spannenden Einblicke in die Welt der Musik und des Dirigierens! Und toi, toi, toi für die kommenden Sinfoniekonzerte im Hugo-Junkers Hangar hier in Mönchengladbach und im Seidenweberhaus in Krefeld!